Aerosolforscher Scheuch: „Wir müssen das Lebensmittel Luft mehr schätzen lernen“

Aerosolforscher Dr. Gerhard Scheuch fordert im Interview mit LufthygienePro mehr Unterricht im Sommer und mehr Freizeit für Schüler*innen im Winter. Neue Bundesregierung soll sich um mobile Raumluftfilter für Alten- und Pflegeheime kümmern.

Dr. Gerhard Scheuch

Dr. Gerhard Scheuch

Wissenschaftler forschen bereits seit Jahren zu Aerosolen und Lufthygiene. Die Lufthygiene ist daher kein wissenschaftliches Nischenthema mehr, denn frische Luft im Innenraum ist wichtiger als je zuvor. Zu ungeahnter Popularität kamen diese Themen jedoch erst mit der Corona-Pandemie. Zusammen mit meiner Kollegin Katharina Nilges konnte ich mit einem der führenden deutschen Aerosolforscher, Dr. Gerhard Scheuch, Geschäftsführer der BIO-INHALATION GmbH, über Lufthygiene in Innenräumen sprechen. Gerhard Scheuch verfügt als Biophysiker über internationales Renommee in der Aerosolmedizin. Er ist Regulierungsexperte bei der EMA und Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten großer Pharmaunternehmen sowie ehemaliger Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin (ISAM).

Kausch: Zu Beginn dieses Jahres sagten Sie, dass die Infektion über Aerosole nur dann wahrscheinlich sei, wenn man sich fünf bis fünfzehn Minuten sehr dicht bei einem Infizierten aufhält. Stimmt diese Aussage bei heutigem Kenntnisstand und der grassierenden Deltavariante des SARS-Cov2 Virus noch?

Scheuch: Mir sind keine anderweitigen Daten bekannt geworden. Da wir inzwischen wissen, dass bei der Delta Variante im Mittel etwa dreimal so viele Viren exhaliert werden, wie bei der ursprünglichen Variante, würde ich heute eher von fünf Minuten sprechen. Harte Daten dafür gibt es allerdings nicht.

Nilges: Forschende der Universität Cambridge von der Fakultät für Ingenieurswissenschaften haben auf der Basis von Berechnungen von Dynamik und Bewegungen herausgefunden, dass SARS-CoV-2 Viren sich auch im Freien weiter als zwei Meter ausbreiten – ist die Zwei-Meter-Abstandsregel dann überhaupt sicher im Freien, oder sollten auch im Außenbereich Masken getragen werden?

Scheuch: Natürlich können sich die Viren über eine längere Strecke ausbreiten. Allerdings muss man bedenken, dass für eine Infektion immer eine gewisse Menge an aufgenommenen Viren nötig ist. Da im Freien der Verdünnungseffekt sehr groß ist, erscheint es unwahrscheinlich, dass bei einem Abstand von deutlich über 50 cm genügend Viren die gegenüberstehende Person erreichen und inhaliert werden können.

Nilges: Wie sehen Sie die Ansteckungsgefahr in Bus, Bahn und Fernverkehr? Gerade zur Weihnachtszeit werden sich wieder vermehrt Leute in Zügen aufhalten, um Verwandte zu besuchen. Gibt es Tipps zur Prävention?

Scheuch: Leider scheint die Gefahr in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht vernachlässigbar. Gerade wurde eine kleine Untersuchung gemacht, bei der der CO2-Gehalt in der Luft an verschiedenen Orten gemessen wurde. Dabei kam heraus, dass in Bussen und Bahnen zum Teil sehr hohe Werte gemessen wurden. Dies spricht dafür, dass dort nicht sehr viel Luftaustausch stattfindet und damit auch eine mögliche Virenkonzentration lange in der Luft bleibt. Man muss sich weiter mit effektiven Masken (FFP2) schützen. Wenn möglich lüften. Bei sehr langen Fahrten, diese einmal unterbrechen und ins Freie gehen.

Nilges: Gilt das gleiche auch für den Kinobesuch oder ein Essen im Restaurant? Hier sitzt man ja in der Regel ohne Maske.

Scheuch: Das Kino ist durch die Größe des Raumes ziemlich ungefährlich. Da pro Person in einem Kino sehr viel Luftvolumen zur Verfügung steht, kann sich das abgeatmete Aerosol rasch verdünnen. Und wenn dann noch eine gute Ventilation installiert ist, ist die Infektionsgefahr im Kino gering. In Restaurants ist es wichtig, für ausreichende Lufthygiene zu sorgen. Dazu dienen natürlich Lüftungsanlagen und eventuell zusätzlich Raumluftfilter. Wenn man in einem sehr vollen Restaurant sitzt und man erkennt, dass die Abstände gering sind und man das Gefühl hat, dass wenig Luftaustausch stattfindet, sollte man vielleicht am Tisch so lange wie möglich die Maske auflassen, auch wenn das nicht vorgeschrieben ist. Unsinnig ist die Regelung, dass man auf dem Weg zum Platz oder zur Toilette Masken aufsetzen muss, sie dann aber am Tisch abnimmt. Das macht aerosolphysikalisch gar keinen Sinn.

Nilges: Welche Tipps haben Sie für das gemeinsame Weihnachtsessen im heimischen Esszimmer?

Corona virusScheuch: 1. Man sollte sich mit möglichst wenigen Personen gleichzeitig treffen. Also lieber ein Essen mit der Großfamilie in diesem Jahr einmal teilen, so dass nicht alle gleichzeitig anwesend sind.

2. Möglichst das Essen nicht ‚unendlich‘ ausdehnen. Auch wenn das vielleicht unhöflich klingt, kurze Treffen sind dieses Jahr besser.

3. Den größten Raum, den man zur Verfügung hat, für das Treffen nutzen.

4. Lüften, lüften lüften. Ganz bewusst ab und zu das Fenster öffnen. Das vertreibt die stickige Luft und auch die Viren. Man kann mit Hilfe eines CO2 Messgerätes testen, wie ‚verbraucht‘ die Luft ist und sollte dann bei hohen CO2 Werten (spätestens über etwa 1000ppm) lüften.

5. Wenn man hat, einen mobilen Raumluftfilter ins Zimmer stellen und möglichst auf der höchsten Lüfterstufe laufen lassen.

6. Ich glaube Masken sind bei Familienfeiern nicht so toll, dafür vielleicht einen gemeinsamen Spaziergang anstatt einer Nachspeise oder Kaffeetafel. Das ist definitiv gesünder. Und ab und zu das Zimmer mit den Gästen verlassen und in einen anderen Raum gehen.

Kausch: Zurzeit finden ja wieder einige Messen und Veranstaltungen statt, zuletzt die MEDICA – wie verhält es sich hier mit der Verteilung von Aerosolen? Sind Räume mit hohem Luftvolumen, wie Messehallen oder Museen, vergleichbar sicher wie Open Air Veranstaltungen?

Scheuch: Ja, tatsächlich sind solche großen Veranstaltungshallen fast so sicher wie der Außenbereich. Aber auch hier gilt: Man muss eine funktionierende Lüftungsanlage einsetzen, um für ausreichend Frischluftzufuhr zu sorgen.

Nilges: Zu Beginn der Pandemie gab es unterschiedliche Empfehlungen zum Turnus, in dem Mund-Nasen-Bedeckungen gewechselt werden sollten. Welche Empfehlung verfolgen Sie?

Scheuch: Einwegmasken sollte man tatsächlich nicht allzu oft benutzen. Allerdings nutze ich auch eine FFP2 Maske nicht nur für einen einzigen Einkauf.

Kausch: Wie wichtig ist die Überwachung der CO2-Werte in direktem Zusammenhang mit der Aerosolbelastung in Räumen aus Ihrer Sicht?

Scheuch: Ich halte diese Maßnahme für wichtig und notwendig. Vor ein paar Monaten habe ich gelesen, dass in Belgien in allen Räumen mit Publikumsverkehr CO2 Messgeräte installiert sein müssen. Ich finde das gut, weil sich dann jeder Besucher über die entsprechende Luftqualität selbst informieren kann und entscheiden kann, ob es ihm in diesem Raum doch eher zu riskant ist.

Kausch: Gibt es eine Variante der am Markt verfügbaren Raumluftfilter-Systeme, die Sie für besonders geeignet – oder im Umkehrschluss für weniger wirksam halten? Machen Raumluftfilter in Schulen und Büros überhaupt Sinn?

Scheuch: Ich bin ein großer Freund der mobilen Raumluftfilter. Denn jedes Virus, dass ich aus der Zimmerluft entferne, muss eine andere Person in diesem Raum nicht einatmen. Die Stiftung Warentest hat verschiedene Modelle getestet und kommt zu dem Urteil, dass es gute Geräte auf dem Markt gibt, die man einsetzen kann und die auch deutlich unter 500 Euro kosten. Ich selbst habe inzwischen mindestens 20 verschiedene Geräte untersucht und bis auf ein einziges Gerät waren alle sehr effektiv in der Reduktion von kleinen Aerosolteilchen (in der Größe der Aerosolpartikel mit denen die Viren sich vermehren). Ich selbst nutze Filter mit HEPA Filtern (H13, aber auch E12 und E11). Ich weiß aber von anderen Untersuchungen, dass auch andere Technologien gut funktionieren. Wichtig ist bei der Anschaffung, dass die sogenannte ‚Clean Air Delivery Rate (CADR)‘ möglichst so hoch ist, dass sie das Raumvolumen, in dem das Gerät eingesetzt wird, mindestens etwa vier Mal umwälzen kann. Also bei einem Raum mit einem Volumen von 75 Kubikmeter (25 Quadratmeter und 3 Meter Deckenhöhe) braucht man ein Gerät mit einem CADR von 300 m³/h oder mehr. Die CADR gibt an, wieviel Kubikmeter teilchenfreie Luft das Gerät pro Stunde abgibt.

Luftreiniger

Kausch: Ist Stoßlüften von Räumen nur bis zu einer gewissen Raum-Volumengröße wirksam, oder kann ab einer gewissen Größe die Raumluft nicht mehr ausreichend „ausgetauscht“ werden?

Scheuch: Das ist jetzt nicht direkt mein Fachgebiet – aber das dürfte wohl so sein. Je größer ein Raum ist, umso länger dauert es natürlich, bis die gesamte Luft ausgetauscht ist. Aber es kommt dann sicher auch noch auf die Raumgeometrie und andere Faktoren an (zum Beispiel ob viele Hindernisse im Raum aufgebaut sind).

Kausch: Wie müssen Räume der Zukunft aussehen, sodass Menschen wieder bedenkenlos an ihrem Arbeitsplatz arbeiten können und Schüler in Klassenräumen auch ohne Maske lernen dürfen? Brauchen wir neue baurechtliche Verordnungen?

Scheuch: Meiner Meinung gibt es diese baurechtlichen Verordnungen bereits. Wir haben in der Vergangenheit sehr viel Wert auf die ‚Dichtigkeit‘ von Räumen gelegt. Wir brauchen aber auch Frischluftzufuhr. Da werden sicher jetzt auch pfiffige Lösungen entstehen, um das Raumluftklima, also auch Temperatur und Feuchte, sowie Frischluftzufuhr miteinander in Einklang zu bringen.

Kausch: Wie bringen Sie Ihr Wissen an die richtige Stelle, zum Beispiel zu Architekten und Bauherren, damit Räume auch aus Ihrer Perspektive richtig geplant werden?

Scheuch: Dazu benötigt es Lüftungstechniker und Lüftungsexperten. Da bin ich als Aerosolphysiker sicher nur der, der bestimmte Vorgaben und Vorschläge machen kann.

Kausch: Nur weil wir jetzt einmal eine Pandemie haben, ist es sinnvoll, bei der Raumplanung die Ergebnisse der Aerosolforschung dauerhaft in die Gebäudeplanung mit einfließen zu lassen?

Scheuch: Das ist absolut wichtig – auch für die Zukunft. Wir müssen das Lebensmittel Luft mehr schätzen lernen. Im Freien tun wir das ja schon. Es gibt Luftschadstoffgrenzwerte, die nicht überschritten werden sollen. Also in Deutschland soll in den Innenstädten ein Grenzwert von Feinstaub von 30µg/m³ nicht überschritten werden. In Innenräumen gibt es solche Vorgaben nicht. Wir müssen uns aber auch und insbesondere um die Luft in den Innenräumen kümmern. Eine amerikanische Kollegin hat vor kurzem gesagt: ‘Wir würden doch niemals mit Bakterien und schädlichen Viren verseuchtes Wasser trinken. Um die Luft um uns herum, die wir mit jedem Atemzug zu uns nehmen, kümmern wir uns zu wenig.‘ Ich plädiere dabei nicht für eine hygienisch reine Umgebung. Unsere Lunge kann schon einiges ab und braucht sicher auch gewissen Anreize, um unser Immunsystem zu trainieren. Aber insbesondere in einer Pandemie wie jetzt, sollten wir mehr darauf achten, was wir einatmen.

Nilges: Epidemiologen und Virenforscher sagen, dass uns Pandemien regelmäßig heimsuchen werden, was kann die Aerosolforschung tun, uns zukünftig besser zu schützen?

Scheuch: Die Aerosolforschung kann Konzepte liefern, wie wir unser Leben mit diesen luftgetragenen Viren, Bakterien und Pilzen als soziale Wesen weiter gestalten können. Kontaktbeschränkungen und Lockdowns müssen die Ausnahme darstellen. Wir brauchen einen Werkzeugkasten mit Maßnahmen, die wir aktivieren können, wenn es wieder einmal nötig ist. Zum Teil haben wir diese Werkzeuge ja schon. Wir müssen sie aber auch einsetzen.

Kausch: Aerosolforscher sind gefragt, wie nie zuvor, was leiten Sie daraus für die Zukunft Ihres Forschungszweiges ab – bleibt die Bedeutung auch nach der Pandemie erhalten?

Scheuch: Ich würde mir das sehr wünschen. Die Erfahrung lehrt mich aber, dass das Interesse sehr rasch wieder abnimmt, wenn die Pandemie vorbei sein sollte. Ich habe das schon einmal erlebt. Als Mitte der 80er Jahre der Kernreaktor in Tschernobyl explodierte und eine Aerosolwolke über Nord-, Mittel und Osteuropa zog, da erlebte mein Forschungszweig schon einmal einen Boom, der aber nur recht kurz anhielt. Zu Beginn der 90er Jahre verschwand das Interesse dann wieder.

Kausch: In diesen Tagen organisiert sich eine neue Bundesregierung. Wenn Sie drei Wünsche frei hätten an die neue Regierung in Berlin und die Regierung sich verpflichten würde Ihre ganz persönlichen drei Wünsche innerhalb der nächsten sechs Monate umzusetzen: welche drei Wünsche würden Sie nach Berlin senden?

Scheuch: 1. Ich würde mir Experten aus wirklich unterschiedlichen Disziplinen in einem Expertenrat wünschen. Und ich wünschte mir, dass der ein oder andere Aerosolforscher dabei wäre.

2. Ich würde eine strukturelle Änderung im Schulbetrieb auf den Weg bringen. Im Sommer weniger Ferien und mehr Schule, dafür in den Wintermonaten mehr freie Zeit. Zurzeit findet Schule immer statt, wenn die Infektionen hoch sind und die Klassenräume sind leer, wenn es gar keine Infektionskrankheiten gibt. Außerdem würde ich die Unterrichtszeiten verkürzen. Es darf meiner Ansicht nach keine Doppelstunden mehr geben. Und alle Klassen sollten gemeinsam mit Lehrern und Schülern für ihre Klasse ein Lufthygiene Konzept erarbeiten. Was man sich selbst ausgedacht hat, wird in der Regel auch umgesetzt.

3. Ich würde die Alten- und Pflegeheime mit mobilen Raumluftfiltern und Lüftungsanlagen ausrüsten. Dort sitzen die gefährdetsten Menschen in unserer Gesellschaft und die haben ein Recht auf frische Luft.


Illustrationen: RFBSIP, Grispb und emirage @ AdobeStock.com

One Reply to “Aerosolforscher Scheuch: „Wir müssen das Lebensmittel Luft mehr schätzen lernen“”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert